Nachgefragt

«Basierend auf ihren Stärken müssen die Gemeinden den Mut haben, Vorhaben zu priorisieren und auf gewissen Sachen zu verzichten»

Rolf Widmer, was sind aus Ihrer Sicht aktuell die grössten Herausforderungen für die Berner Gemeinden?
Rolf Widmer: Um diese Herausforderungen benennen zu können, muss man schauen, in welchem Umfeld sich die einzelnen Gemeinden bewegen und welche Rahmenbedingungen für sie gelten. Grundsätzlich lassen sich die Herausforderungen in drei «Säulen» aufzeigen: Die erste Säule umfasst die technologischen bis hin zu partizipativen Herausforderungen, in der die Gemeinden im Bereich der digitalen Transformation gefordert sind. Bei der zweiten Säule stehen die knappen Ressourcen im Vordergrund. Und die dritte könnte man die «Fachsäule» nennen, welche die «Vorschriftenflut» und Komplexität der Fachthemen zusammenfasst, die die Gemeinden zu bewältigen haben.

Was heisst das konkret?
Rolf Widmer: Die Digitalisierung ist ein Thema, das uns auch als Kanton beschäftigt. Mit dem neuen Gesetz über die digitale Verwaltung (DVG) wird der Behördenverkehr auf Ebene «digital first» priorisiert. Die Herausforderung für die (kleinen) Gemeinden ist, dass sie diese Umsetzung unter Umständen gar nicht selber stemmen können und sich zuerst entsprechend organisieren müssen. Hinsichtlich der «Ressourcen-Säule» müssen sich die Gemeinde die Frage stellen, welche Ressourcen ihnen zur Verfügung stehen, um die Herausforderungen anzugehen. Da sind wir dann schnell beim Thema «Fachkräftemangel». Zwar werden jedes Jahr genügend Kaderleute ausgebildet für die aktuell 335 Gemeinden. Die Gemeinden haben aber permanent Schwierigkeiten, Kaderleute wie Finanz-, Bauverwalter/innen oder Gemeindeschreiber/innen zu finden. Und zudem sind die Gemeinden auch mit einem «Behördenengpass» konfrontiert. Es wird auch immer schwieriger, genügend Behördenmitglieder zu finden.
Die «Fachsäule» umfasst die ganze Thematik der Vorschriften, die von Bund und Kanton auf die Gemeinden einprasseln, was ihre Aufgabe zunehmend erschwert. Zudem nimmt auch die Komplexität der verschiedenen Fachthemen zu. Um die komplexen Vorgaben adäquat und professionell umsetzen zu können, braucht es gut ausgebildete Kaderleute – und die fehlen zunehmend. 

Ueli Stalder, die Berner Gemeinden sind auch bei der Umsetzung der «Netto Null»-Vorgaben gefordert. Wie schätzen Sie das ein?
Ueli Stalder: In verschiedener Hinsicht ist die Klima-, Energie- und Umweltthematik symptomatisch für die von Rolf Widmer erwähnten Herausforderungen. In diesem Bereich ist die Regulierungsfreudigkeit auf der politischen Ebene – sei es beim Bund oder beim Kanton – aktuell sehr gross. Es kommen laufend neue Regelungen und Bestimmungen. Das fordert die Gemeinden stark – manchmal überfordert es sie vermutlich auch. Als Gemeinde – und übrigens manchmal auch als Kantonsverwaltung – befinden wir uns dabei in einer mehrfachen «Sandwich-Position». Einerseits zwischen der regulierungsfreudigen Politik und den inzwischen tendenziell eher regulierungsmüden Bürgerinnen und Bürgern. Andererseits auch zwischen den Ansprüchen von Politik und den vorhandenen Ressourcen, um diesen Ansprüchen gerecht zu werden. Kann man sich angesichts der unterschiedlichen Erwartungen nicht auf einen bestimmten Fokus einigen, besteht die Gefahr, dass die zunehmend wichtigen Themen Klima, Umwelt und Energie auf die lange Bank geschoben werden und man sich als Gemeinde in einer nur noch reaktiven, den Entwicklungen hinterherlaufenden Rolle wiederfindet. 

Ist auch ein gewisser Spardruck zu spüren? Wie sind die Berner Gemeinden denn finanziell aufgestellt?
Rolf Widmer: Im Januar 2025 publizieren wir den aktuellen Gemeindefinanzbericht. Für diesen haben wir die Rechnungen 2023 analysiert. Wir haben festgestellt, dass über alle Berner Gemeinden hinweg die finanzielle Entwicklung relativ stabil ist. Keine einzige Gemeinde weist einen Bilanzfehlbetrag aus. Die Investitionen haben zugenommen und wir konstatieren, dass die Power in finanzieller Hinsicht nach wie vor vorhanden ist. Die Gemeinden haben aber einen Riesenkorb voller Aufgaben zu erfüllen: Basierend auf ihren Stärken müssen die Gemeinden somit den Mut haben, Vorhaben zu priorisieren und auf gewisse Sachen zu verzichten.

Wäre eine verstärkte interkommunale Zusammenarbeit ein Lösungsweg?
Rolf Widmer: Die Gemeinden müssten sich ganz generell in einem Strategieprozess Überlegungen machen, ob sie ihre Aufgaben mit den vorhandenen Ressourcen mittelfristig stemmen können. Ein Lösungsweg ist in gewissen Bereichen sicher auch eine verstärkte interkommunale Zusammenarbeit. Wenn eine Gemeinde dann aber sehr viele Aufgaben an eine Zentrumsgemeinde ausgelagert hat, muss sie sich irgendwann schon fragen, ob sie den letzten Schritt einer Fusion auch noch gehen will.

Welche diesbezüglichen Anreize schafft der Kanton?
Rolf Widmer: Im neuen Gemeindefusionsgesetz, das am 1. Januar 2025 in Kraft tritt, ist vorgesehen, dass Gemeinden bei einer erfolgreichen Fusion einen Pauschalbeitrag von 400'000 Franken erhalten. Im Weiteren hält das Gesetz fest, dass sich strategische Fusionen zu einer Zentrumsgemeinde finanziell lohnen sollen. Je mehr Gemeinden daran beteiligt sind, desto mehr Geld erhalten sie, in Form eines «Zentrums-Bonus». Dieser soll grösseren (Zentrums-)Gemeinden – egal ob ländlich oder urban – einen Anreiz bieten, sich mit kleineren, weniger professionell aufgestellten und finanziell schwächeren Gemeinden zusammenzuschliessen. Letztendlich ist das aber ein freiwilliger Prozess. 

Ueli Stalder, sind aus Ihrer Sicht Gemeindefusionen auch wünschenswert, weil die Gemeinden dann Klima-, Energie- und Umweltaufgaben professioneller angehen könnten?
Ueli Stalder: Grundsätzlich ja. Wobei gerade bei diesen Themen auch noch sehr viel Potenzial bezüglich einer verstärkten interkommunalen Zusammenarbeit besteht. Wenn beispielsweise eine Gemeinde ein innovatives Klima- oder Energie- resp. Umweltprojekt plant, wäre es wünschenswert, wenn sie frühzeitig auch die umliegenden Gemeinden mit einbezieht – und sie fragt, ob sie ebenfalls mitmachen. In der alltäglichen Zusammenarbeit ist noch viel Potenzial vorhanden – sowohl auf der strategischen als auch auf der fachlich-operativen Ebene.

Können Regionalkonferenzen oder Planungsregionen gewisse Aufgaben aus einer Gesamtoptik auffangen und das territoriale Vorgehen etwas durchbrechen?
Rolf Widmer: Die Regionalkonferenzen sind ein Gefäss für die Gemeinden, damit sie im «Verbund» in einer verbindlichen Art und Weise zusammenarbeiten können. Die privatrechtlich organisierten Planungsregionen funktionieren aus unserer Sicht auch sehr gut. Im Vergleich zu einer Regionalkonferenz besteht hier aber eine geringere Verbindlichkeit. 

Ueli Stalder: Die Regionalkonferenzen und Planungsregionen entstanden ja nicht zuletzt deshalb, um die Siedlungs- und Mobilitätsentwicklung regional aufeinander abzustimmen. Wir müssten auch in der Klima- und Energiethematik vermehrt in solchen funktionalen Räumen denken und zusammenarbeiten. Im Klima- und Energiebereich gibt es beispielsweise in den Regionalkonferenzen Oberland-Ost und Bern-Mittelland sowie im Berner Jura schon gute Beispiele für die interkommunale Zusammenarbeit – und auch die regionalen Naturpärke sind diesbezüglich aktiv.

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten: Was würden Sie sich bezüglich der Vorgehensweise der Gemeinden wünschen, um den Herausforderungen zu begegnen?
Rolf Widmer: Mein Wunsch wäre, dass die Gemeinden ihr Potenzial erkennen, es ausschöpfen und sich als attraktive Institution positionieren. Das ist eine Voraussetzung, um gute Fachkräfte anzuziehen und mehr Leute zu motivieren, sich politisch zu engagieren. Dabei sollen sie sich auf ihre Stärken fokussieren. Denn starke Gemeinden bilden ein solides Fundament für den Kanton.

Ueli Stalder: Meiner schliesst an diesen Wunsch an: Dass man sich als Gemeinde zusammen mit den Nachbargemeinden überlegt, wie man die Klima-, Energie- und Umwelt-Herausforderungen mit einen langfristigen, nachhaltigen Ansatz angeht … und nicht mit Aktivismus. Es sollte eine gut verankerte Strategie mit griffigen Massnahmen vorliegen, die auch mit der Budgetplanung abgestimmt ist. Die Erarbeitung einer Klimastrategie oder auch eines Leitbildes und einer Legislaturplanung zur nachhaltigen Gemeindeentwicklung kann unser Amt übrigens auch finanziell unterstützen. Mehr Informationen dazu sind auf unserer Website zu finden.
 

Ueli Stalder (links) und Rolf Widmer im Gespräch mit Michel Geelhaar.